Auszug: "Vor einem der alten Festungstore der Stadt Augsburg stand noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ein Häuschen mitten in einem großen, verwilderten Garten, den schon seit Menschengedenken Niemand mehr betreten hatte. Eine hohe Mauer, deren Bewurf von Regen und Schnee zernagt kaum noch hie und da an den Steinen hing, lief in weitem Viereck um das öde Grundstück herum, und nur durch das schwere eiserne Gittertor zwischen den beiden mit Wappenlöwen gekrönten Mittelpfeilern konnte man einen verstohlenen Blick in das Innere werfen. Man sah von dem Häuschen, das nur Ein Stockwerk hatte, nichts als ein Stück des verwitterten Schindeldaches über die Taxushecke hervorragen, die gleich hinter dem Eingang gepflanzt dazu bestimmt schien, neugierige Blicke abzuwehren. Jahr um Jahr wuchs diese Hecke, an der so lange schon keine Gärtnerschere gestutzt hatte, und Jahr um Jahr schien die schwarze Dachlinie des Gartenhäuschens tiefer hinabzusinken, sodass man den Tag kommen sah, wo hinter den rostigen Schnörkeln des alten Tores nur noch eine dunkelgrüne Wildnis zu schauen sein würde."
Paul Johann Ludwig Heyse, ab 1910 von Heyse (* 15. März 1830 in Berlin; † 2. April 1914 in München) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf Heyse rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyses Biograf Erich Petzet rühmte die „Umfassenheit seiner Produktion“. Die Ausgabe der Werke, die Petzet 1924 besorgte, umfasst drei Reihen von je fünf Bänden, von denen jeder rund 700 Seiten zählt (darin sind nicht alle Werke enthalten). Der einflussreiche Münchener „Dichterfürst“. Heyse pflegte zahlreiche Freundschaften und war auch als Gastgeber berühmt. Theodor Fontane glaubte 1890, dass Heyse seiner Epoche „den Namen geben“ und ein „Heysesches Zeitalter“ dem Goetheschen folgen werde. 1910 wurde Heyse als erster deutscher Autor belletristischer Werke mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.