This image is the cover for the book Novellen Erste Sammlung, Classics To Go

Novellen Erste Sammlung, Classics To Go

Auszug: "Am offnen Fenster, das auf den kleinen Blumengarten hinausging, stand die blinde Tochter des Dorfküsters und erquickte sich am Winde, der über ihr heißes Gesicht flog. Die zarte halbwüchsige Gestalt zitterte, die kalten Händchen lagen in einander auf dem Fenstersims. Die Sonne war schon hinab und die Nachtblumen fingen an zu duften. Tiefer im Zimmer saß ein blinder Knabe auf einem Schemelchen an dem alten Spinett und spielte unruhige Melodieen. Er mochte fünfzehn Jahr alt sein und nur etwa um ein Jahr älter als das Mädchen. Wer ihn gehört und gesehen hätte, wie er die großen offnen Augen bald emporwandte, bald das Haupt nach dem Fenster neigte, hätte sein Gebrechen wohl nicht geahnt. So viel Sicherheit, ja Ungestüm lag in seinen Bewegungen. Plötzlich brach er ab, mitten in einem geistlichen Liede, das er nach eignem Sinne verwildert zu haben schien. »Du hast geseufzt, Marlene?« fragte er mit umgewandtem Gesicht. »Ich nicht, Clemens. Warum sollt' ich seufzen? Ich schrak nur zusammen, wie der Wind auf einmal so heftig hereinfuhr.« »Du hast doch geseufzt. Meinst du, ich hörte es nicht, wenn ich spiele? Und ich fühl' es auch bis hierher, wenn du zitterst. »Ja, es ist kalt geworden.« »Du betrügst mich nicht. Wenn dir kalt wäre, stündest du nicht am Fenster. Ich weiß aber, warum du seufzest und zitterst. Weil der Arzt morgen kommt und uns mit Nadeln in die Augen stechen will, darum fürchtest du dich. Und er hat doch gesagt, wie bald Alles geschehen sei, und daß es nur thue wie ein Mückenstich. Warst du nicht sonst tapfer und geduldig, und wenn ich als Kind schrie, so oft mir was weh that, hat dich meine Mutter mir nicht immer zum Muster aufgestellt, obwohl du nur ein Mädchen bist? Und nun weißt du dich nicht auf deinen Muth zu besinnen, und denkst gar nicht an das Glück, das wir hernach zu hoffen haben?«"

Paul Heyse

Paul Heyse war ein deutscher Schriftsteller, der am 15. März 1830 in Berlin geboren wurde und am 2. April 1914 in München starb. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts und erhielt im Jahr 1910 den Nobelpreis für Literatur. Heyse wurde in eine wohlhabende Familie hineingeboren und erhielt eine umfassende Bildung. Er studierte zunächst Jura in Berlin, wandte sich jedoch schnell der Literatur zu. Schon früh begann er Gedichte und Novellen zu veröffentlichen und wurde in den literarischen Kreisen seiner Zeit bekannt. Heyse schrieb in verschiedenen Genres, darunter Romane, Novellen, Dramen und Gedichte. Seine Werke zeichnen sich durch einen eleganten Stil, eine präzise Beobachtungsgabe und eine feine psychologische Darstellung aus. Er war ein Vertreter des poetischen Realismus und des Bürgerlichen Realismus. Besonders bekannt wurde Heyse für seine Novellensammlungen, in denen er das Leben der einfachen Menschen einfühlsam und realistisch darstellte. Einige seiner bekanntesten Werke sind "L'Arrabbiata", "Kinder der Welt" und "Im Paradiese". Er war auch als Übersetzer tätig und übertrug unter anderem Werke von Dante, Cervantes und Shakespeare ins Deutsche. Heyse war ein angesehener Schriftsteller seiner Zeit und wurde vielfach ausgezeichnet. Neben dem Nobelpreis erhielt er auch den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste sowie den Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst. Paul Heyse verbrachte einen Großteil seines Lebens in München, wo er an der Ludwig-Maximilians-Universität lehrte. Er war mit vielen bedeutenden Künstlern und Schriftstellern seiner Zeit befreundet, darunter Theodor Fontane und Gottfried Keller. Mit dem Aufkommen des Naturalismus geriet Heyse jedoch in literarische Konflikte und geriet in den Schatten anderer Autoren. Dennoch hinterließ er ein umfangreiches literarisches Werk, das seinen Platz in der deutschen Literaturgeschichte sicher hat.

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