Auszug: "Wir hatten bis in die tiefe Nacht hinein geplaudert, unser drei, bei einigen Flaschen Astiweins, die wir durch einen glücklichen Zufall aufgetrieben hatten und nun im kühlen Gartenhaus auf das Wohl des eben aus Italien heimgekehrten Freundes leerten. Er war der älteste von uns und schon ein fertiger Mann, als wir ihn vor zwölf Jahren auf einer Reise im Süden kennenlernten. Auf den ersten Blick hatte uns seine männliche Gestalt, der Adel seines Wesens und eine gewisse melancholische Anmut seines Lächelns für ihn eingenommen. Sein Gespräch, seine ungewöhnliche Bildung und die Bescheidenheit, mit der er sie geltend machte, gewannen uns vollends, und die drei Wochen, die wir miteinander in Rom zubrachten, befestigten eine so warme Freundschaft, wie sie nur je zwischen Ungleichaltrigen bestanden hat. Dann musste er plötzlich nach Genf, seiner Heimat, zurück, wo er an der Spitze eines ansehnlichen Handlungshauses stand. Aber in den folgenden Jahren hatten wir keine Gelegenheit versäumt, uns wiederzusehen, und auch jetzt war ihm der Umweg über unsere Stadt nicht zu weit gewesen, um uns wenigstens auf vierundzwanzig Stunden zu begrüßen."
Paul Johann Ludwig Heyse, ab 1910 von Heyse (* 15. März 1830 in Berlin; † 2. April 1914 in München) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf Heyse rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyses Biograf Erich Petzet rühmte die „Umfassenheit seiner Produktion“. Die Ausgabe der Werke, die Petzet 1924 besorgte, umfasst drei Reihen von je fünf Bänden, von denen jeder rund 700 Seiten zählt (darin sind nicht alle Werke enthalten). Der einflussreiche Münchener „Dichterfürst“. Heyse pflegte zahlreiche Freundschaften und war auch als Gastgeber berühmt. Theodor Fontane glaubte 1890, dass Heyse seiner Epoche „den Namen geben“ und ein „Heysesches Zeitalter“ dem Goetheschen folgen werde. 1910 wurde Heyse als erster deutscher Autor belletristischer Werke mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.