This image is the cover for the book Der Kinder Sünde, der Väter Fluch, Classics To Go

Der Kinder Sünde, der Väter Fluch, Classics To Go

Auszug: "Vom Ifinger, der in grauer Vorzeit mit einem gewaltigen Erdsturz die alte Maja verschüttet und den Abhang gegründet hat, auf dem jetzt die Häuser und Weingärten von Obermais stehen, geht eine tiefe Schlucht östlich von Meran in das Etschtal hinab. Der Wildbach, der sie durchströmt, ist den größten Teil des Jahres hindurch eine kümmerliches Wasser, das im Hochsommer zwischen Gestein und gelbem Sand vollends versiegt, sodass sein tiefes Bett so gefahrlos zu betreten ist, wie droben die hochgeschwungenen hölzernen Brücken. Wenn im Frühling der Schnee jählings ins Tauen kommt, füllt sich auch die Rinne der Naif mit einem trüben Schwall, in dem keine Fische atmen mögen. Weiter ins Jahr hinein aber, bei starkem Ungewitter, Hagelschlag und Orkan, scheint sich alle Wut der Elemente in dieser einsamen Schlucht zu sammeln. Dann lösen sich die zähen Erbmassen, mit denen das Granitgerippe des Ifinger umkleidet ist, in einen dunkelbraunen Schlamm, den die Quelle der Naif mit Ungestüm fortwälzt; große Felsblöcke, Bäume und Rasenstücke folgen dem Sturz, mit immer wachsendem Getöse stürmt der Höllenbrei aus der Enge ins bewohnte Tal hinaus, und über eine Stunde weit hört man den donnernden Fall und spürt das Beben der Erde. Wenn es Nachts geschieht, wachen die Bauern weit und breit davon auf und horchen ängstlich hinaus. Die Naif kommt! sagen sie und beten. Die aber zunächst wohnen lassen es nicht beim Beten bewenden, stürzen aus den Betten ins Freie, treiben das Vieh aus den Ställen und laden ihre wertvollste Habe auf Wagen, lange bevor die zähe Masse zum Rand der Ufer hinaufgeschwollen ist. Denn sobald nur ein größerer Felsen oder ein ausgerissener Baum sich in den Weg schiebt, so staut der Schlamm und wächst alsbald zu einem Berge in die Höhe, hinter dem dann die nachstürzenden Massen links und rechts überfließen und Weinpflanzungen, Obsthalden, Häuser und Gehöfte unwiderstehlich verwüsten."

Paul Heyse

Paul Johann Ludwig Heyse, ab 1910 von Heyse (* 15. März 1830 in Berlin; † 2. April 1914 in München) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf Heyse rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyses Biograf Erich Petzet rühmte die „Umfassenheit seiner Produktion“. Die Ausgabe der Werke, die Petzet 1924 besorgte, umfasst drei Reihen von je fünf Bänden, von denen jeder rund 700 Seiten zählt (darin sind nicht alle Werke enthalten). Der einflussreiche Münchener „Dichterfürst“. Heyse pflegte zahlreiche Freundschaften und war auch als Gastgeber berühmt. Theodor Fontane glaubte 1890, dass Heyse seiner Epoche „den Namen geben“ und ein „Heysesches Zeitalter“ dem Goetheschen folgen werde. 1910 wurde Heyse als erster deutscher Autor belletristischer Werke mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

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